Berlin, 22.6.2016

I. Was ich heute hier zu sagen habe, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, keinen Verein, keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als regulärer Soldat des Heeres überlebt hat.

Die Mehrheit der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg nicht darum gedrückt, die Ver­brechen des NS-Regimes zu benennen, notfalls in ihrer ganzen Scheußlichkeit zu schildern, damit sie sich nie wiederholen. Am besten ist uns dies gelungen, wo es um den Judenmord ging. Wir wissen Bescheid und stellten sogar ein Leugnen dieses Völkermords unter Strafe.

Dass wir über den Feldzug, der heute vor 75 Jahren begann, sehr viel weniger wissen, hat einen einfachen Grund: Es ist der Kalte Krieg. Auch im Kalten Krieg gab es Freund und Feind, und für uns in Westdeutschland war der neue Feind der alte. Und die Propaganda gegen den neuen Feind knüpfte manchmal da an, wo die gegen den alten aufgehört hatte. Es war einfach nicht opportun, zu berichten oder auch nur zu forschen über das, was zwischen 1941 und 1945 geschehen war.

So blieb das Bild des Ostfeldzugs unscharf. Es blieb bei dem, was die Älteren noch wussten aus den Wehrmachtsberichten, aus Feldpostbriefen, aus dem, was die wenigen gesprächigen Soldaten erzählt hatten. Sicher, die Zahl der sowjetischen Menschenopfer, die sich immer deutlich oberhalb der 20-Millionengrenze bewegte, blieb nicht geheim. Aber es blieb bei einer abstrakten Zahl. Wer kann sich schon 27 Millionen Tote vorstellen?

Dass man in Russland anders Krieg geführt hatte als noch in Frankreich, wurde nicht geleug­net, aber das kam eben daher, dass zwei harte Diktaturen zusammenprallten. Was wirklich in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte vor sich ging, wozu deutsche Soldaten der Waffen-SS, aber eben auch des Heeres, fähig waren, ist nie voll ins Bewusstsein der Nation eingedrungen.

Wir Deutsche wissen von Oradour in Frankreich, von Lidice in Tschechien, von Dörfern, die mitsamt ihrer Bevölkerung ausgelöscht wurden. Wir wissen aber nicht, wie viele Dutzend Oradours es in der Sowjetunion gegeben hat, allein als Folge der verbrannten Erde beim Rückzug der Wehrmacht. Wer von uns weiß schon, dass es deutsche Generäle gab, die offen aussprachen, dass man die nicht mehr arbeitsfähigen sowjetischen Gefangenen verhungern lassen müsse. Vielleicht haben wir erfahren, dass es deutsche Offiziere gab, die den Kommissar­befehl einfach nicht ausführten, aber wir wissen nicht genau, in wieviel tausend Fällen Kommissare sofort exekutiert wurden, ebenso wie Soldaten, die das Pech hatten, Juden zu sein. Ja, es gab einen Rest preußischer Korrektheit, sogar von Ritterlichkeit, aber die Regel war es nicht.

II. Vor 75 Jahren war ich 14 Jahre alt. Meinen 17. Geburtstag habe ich in einer Flakstellung bei Karlsruhe, meinen 18ten an der Westfront in Holland erlebt. Dort war ich der Jüngste in einer Kompanie aus lauter Obergefreiten, die fast alle Osterfahrung hatten. Was sie gelegent­lich abends vor dem Einschlafen erzählten, treibt mich heute noch um. Es war ein stämmiger Alemanne, der die „Goldfasanen“, also die Nazis hasste, der seelenruhig erzählte, wie sie im Winter 41/42 eine Gruppe russischer Infanteristen gefangen nahmen, die wunderbare Filz­stiefel anhatten, während sie selbst immer eiskalte Füße hatten. Was blieb den Landsern anderes übrig, als „die Kerle“ „umzulegen“, um an ihre Stiefel zu kommen?

Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden.

Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben nicht annähernd so wertvoll sei wie das eines Deutschen.

Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:

1.) Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war.

2.) Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, der Kommissarbefehl oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee, sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.

3.) Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, Verhungern­lassen von Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.

4.) Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende jeder selb­ständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slaven galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.

5.) Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation in der europäischen Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.

Man konnte die slawischen Völker nicht, wie die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen überfordert war, er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen die kriminellen Mittel.

Ich will an dieser Stelle nicht ausklammern, was Deutsche, vor allem Frauen, zu leiden hatten, als die Rote Armee das Land erreicht hatte, von dem der Schrecken ausging. Jedes menschliche Leiden hat seine eigene Würde, verlangt nach Mitleiden. Friedrich Schiller hätte dazu gesagt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Wir, die wir heute hier zusammengekommen sind, lehnen uns auf gegen dieses schauerliche Muss, indem wir die böse Tat benennen, sie als Teil unserer Geschichte annehmen, damit sie nicht auch für unsere Kinder und Enkel Böses gebären muss.

III. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen Soldaten, die diesen Krieg führten, eine Horde von Kriminellen gewesen wären. Die meisten waren keine Rassisten. Sie taten, was sie für ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten. Viele hielten sich an die An­standsregeln, die sie zuhause gelernt hatten. Aber sie hatten oft nicht den Mut, rechtswidri­ge Befehle zu verweigern. So waren es meist die Offiziere, die Chefs der Kompanien oder Bataillone, die den Ausschlag gaben. Später, nach Stalingrad, als die Rote Armee in die Offensive ging, fühlten deutsche Soldaten sich als Verteidiger ihres Landes, oft in dem Wissen, dass sie diesen Krieg gegen zwei Weltmächte nicht gewinnen konnten, dass ihr Widerstand sinnlos war.

Was das für den einzelnen bedeutete, will ich am Beispiel meines älteren Bruders zeigen. Der 23-jährige Leutnant der Funker im Mittelabschnitt der Ostfront malte in einem Feldpost­brief vom 4. April 1944, also vom 4.4.44 alle Vierer so, dass sie wie Kreuze aussahen. Er ahnte offenbar, dass seine Front dem nächsten Großangriff nicht mehr gewachsen war. Tatsächlich kam er zwei Monate später darin um. Ich weiß heute noch nicht, wo er verscharrt wurde. Er, der deutsche Offizier, der sich Arm in Arm mit zwei russischen Hilfswilligen fotografieren ließ und von dem ich nie ein böses oder verächtliches Wort über Russen gehört habe, war, wie viele andere, kein Krimineller, sondern Instrument und Opfer einer kriminellen Unternehmung.

Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebzigerjahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukrainekrise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das zu denken geben. Gelten wir jetzt als undankbar? Gorbatschow hat uns die Einheit geschenkt – und was tun wir?

Hier ist nicht der Ort, an dem zu entscheiden ist, was der deutschen Außenpolitik möglich ist. Aber der Ort, wo gesagt werden muss, was nicht mehr sein darf: Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begann. Dann wird jede verletzende Arroganz verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen.

IV. Wir Deutsche haben Michail Gorbatschow zugejubelt, als er vom gemeinsamen Haus Europa sprach. Wir haben doch gewusst, dass dieses Haus eine Wohnung für das Volk der Russen haben muss, und, das wäre heute hinzuzufügen, auch eines für die Ukrainer. Wir können heute allerdings keinem Nationalgefühl mehr trauen, das untrennbar mit dem Hass auf ein anderes Volk verbunden ist. Es mag ja sein, dass in Kiew nur der ein guter Ukrainer ist, der die Russen hasst. Ein guter Europäer ist für uns, wer weiß, dass die Russen ein euro­päisches Volk sind. Und dass das jammervoll heruntergewirtschaftete Land der Ukraine nur eine Chance bekommt, wenn die Europäische Union u n d Russland dies gemeinsam wollen.

Es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukraine­krise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschung, der Verletzung, des Trotzes, ja der Demütigung, wie er im Deutschland der Zwanzigerjahre aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren, die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Nährboden gehören auch Sanktionen. Sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Damit kein Missverständ­nis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Wladimir Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, die sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließen. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des Vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.

Es ist gut so, dass die Bundesregierung und in ihr vor allem der Außenminister darauf besteht, dass der Gesprächsfaden nach Moskau nicht abreißt. Aber es kommt auch darauf an, worüber man mit der russischen Regierung reden will. Was läge da näher – neben den Sanktionen -, als der Versuch, ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West zu verhindern, das im 21. Jahrhundert mit politischem Weitblick nichts, mit Fixiertheit auf die Vergangen­heit viel zu tun hat.

V. In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden sich die zivilisierten Völker Europas des islamistischen Terrors zu erwehren haben. Der „war on terrorism“, den der jüngere Bush vor 15 Jahren proklamierte, hat, vor allem durch Fehlentscheidungen in Washington, nur dazu geführt, dass es heute, anders als 2001, einen islamistischen Terrorstaat gibt, der immer neue Ableger bildet, sogar in Afrika. Auch Deutschland liegt im Visier dieses Terrors. Kurz: im Kampf gegen den Terror hat sich der Westen nicht mit Ruhm bedeckt. Er kann Verbündete brauchen. Russland ist zur Kooperation bereit.

Ein neues Wettrüsten mit Russland erinnert in diesem Zusammenhang an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden?

Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen – geschichtlich gesehen gänzlich obsoleten – Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim nicht anders gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben. Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich in der Defensive.

Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten durch Rüstungsbegrenzung und Entmilitarisierung auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.

VI. Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede f ü r niemanden. Das stimmt nicht ganz. Ich rede für meine sechs Urenkel, die nun, vital und charmant, herankrabbeln. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesisch-russischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.

Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen, opfer­vollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, auch zu einem politischen Willen führt: die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.

Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird.

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